Der
Jugendhilfeausschuss empfiehlt dem Rat der Stadt Eschweiler die Teilnahme der
Stadt Eschweiler an dem Projekt StäpkE sowie die Beauftragung des
Sozialdienstes katholischer Frauen Alsdorf e.V. (SKF Alsdorf e.V.) mit der
Durchführung über den Projektzeitraum hinaus zuzustimmen.
Psychisch zu erkranken, scheint trotz aller Aufklärung immer noch zu
Stigmatisierung und Ausgrenzung zu führen. Dies ist nur einer der Gründe, warum
viele Eltern über eine psychische Erkrankung schweigen. Die Scham, über die
eigene Erkrankung zu reden, ist zu groß. Aufgrund einer hohen Dunkelziffer gibt
es trotz zahlreicher Studien keine genauen
Zahlen zur Häufigkeit psychischer Erkrankungen. Der Deutsche
Gesundheitsservice geht z.B. davon aus, dass die Prävalenz, also die Gesamtzahl
aller 15-79-Jährigen, die im Zeitraum von zwölf Monaten Gefahr laufen, an einer
psychischen Störung zu erkranken, bei 28-33 % liegt (DGPPN Deutsche
Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und
Nervenheilkunde e.V., 2022, „Basisdaten psychische Erkrankungen“, Berlin).
Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass diese Zahl alle Formen
psychischer Störungen erfasst, von leichteren Formen bis hin zu schweren
psychischen Krankheitsbildern wie Psychosen, ist davon auszugehen, dass immer
noch ca. 20 % der Bevölkerung ein ernst zu nehmendes Risiko haben, psychisch zu
erkranken. Heruntergebrochen auf die Städteregion Aachen bedeutet dies, dass
ca. 10.000 Bürgerinnen und Bürger betroffen sein könnten.
Ein psychisch erkranktes Elternteil bedeutet ein erhebliches Risiko im
gesunden Aufwachsen für die betroffenen Kinder. Neben der oft auftretenden
sozialen Isolation der Kinder, entwickeln diese Schuldgefühle, für das nicht
erklärbare Verhalten ihrer Eltern verantwortlich zu sein. Die
krankheitsbedingte Unfähigkeit der Erwachsenen, ihre erzieherischen und
versorgenden Aufgaben zumindest phasenweise nicht erfüllen zu können, führt bei
den Kindern zu einer Art Rollenumkehr. Eltern übertragen dem Kind eine nicht
kindgerechte und vor allem überfordernde elterliche Rolle und die damit
verbundenen Aufgaben (Parentifizierung). Dies kann zu kindlichen
Entwicklungsstörungen führen und das gesunde Aufwachsen erheblich
beinträchtigen. Wissenschaftlichen Studien zufolge liegt die Gefahr, dass diese
Kinder ihrerseits eine psychische Störung entwickeln, zwischen 41% und 77 %. In
Zahlen ausgedrückt bedeutet dies, dass ca. vier Millionen Kinder im Jahr einen
Elternteil mit einer psychischen Erkrankung erleben, davon etwa 500.000-600.000
Säuglinge und Kleinkinder unter drei Jahren (vgl. Albert Lenz, 2017,
Materialien zu frühen Hilfen, Band 9, Eltern mit psychischen Erkrankungen in
den Frühen Hilfen).
Um die Situation der betroffenen Kinder zu verbessern, wurden in der
Städteregion Aachen schon lange vor dem Projekt StäpkE, das seit Juni 2021 mit
Fördermitteln des LVR-Köln als
Verbundprojekt aller Jugendämter im Altkreis (Alsdorf, Eschweiler,
Herzogenrath, Stolberg, Würselen und das Jugendamt der Städteregion Aachen)
entstanden ist, Angebote für Kinder psychisch erkrankter Eltern etabliert. In
Kooperation zwischen dem SkF Alsdorf e.V. und der Familienberatungsstelle des
Vereins zur Förderung der Caritasarbeit in Alsdorf wurde 2014 der
Kinderwunderladen eröffnet, ein Gruppenangebot für betroffene Kinder. Bereits
seit 2012 existiert das Angebot AKisiA („Auch Kinder sind Angehörige“) des
Kinderschutzbundes in
Aachen und auch freie Träger bieten Angebote für Kinder, so z. B. die
Gruppe „Gute Zeiten schlechte Zeiten“ der Kinder- und Jugendhilfe Brand.
Parallel zur Jugendhilfe bieten Institutionen der Erwachsenenpsychiatrie
Angebote für Eltern, z. B. in Form von stationären Maßnahmen oder
Tageskliniken. Und hier wird das Problem offenbar: das medizinisch
psychiatrische Versorgungssystem ist individuumszentriert, d. h. die Hilfen
werden entweder dem Kind oder den Erwachsenen (Eltern) zuteil. Es dominiert ein
Nebeneinander der Hilfen und es gibt wenig bis kaum Zusammenarbeit. Was
gebraucht wird, sind koordinierte Hilfen, die auf verschiedenen Ebenen (Kind
und Eltern oder Familie), entweder parallel, nacheinander oder auch ständig
wechselnd, ansetzen, je nach Bedarfslage. Dazu bedarf es einer engen
Kooperation und Vernetzung zwischen dem Gesundheitssystem (Psychiatrischen
Kliniken, Sozialpädiatrischen Diensten), der öffentlichen und freien
Jugendhilfe sowie Kindertagesstätten, offenen Ganztag und Schulen. Das Projekt
StäpkE setzt mit seinen Angeboten bei diesem Auftrag an.
Integraler Bestandteil von StäpkE bleibt der Kinderwunderladen, der seit
Herbst 2020 mit zwei parallelen Gruppen gestartet ist. Die Familienberatungsstelle
in Stolberg in Trägerschaft der Städteregion Aachen führt das Gruppenangebot
nun ebenfalls durch, sodass Kinder aus der gesamten Städteregion Aachen gut
versorgt werden können und mittels Fahrdienst eine kontinuierliche Teilnahme
gesichert ist.
Neu hinzugekommen sind folgende Module:
Elterntraining
Eltern in ihrer Erziehungskompetenz zu stärken, mit ihnen Notfallpläne zu
entwickeln, wie der Familienalltag auch im Fall eines akuten Schubes
aufrechterhalten werden kann, schützt insbesondere die Kinder.
Familienmodul
Dieses Angebot bündelt Aspekte des Kinderwunderladens und des
Elterntrainings und ist sinnvoll für Familien, die trotz der
Niedrigschwelligkeit der beiden genannten Angebote keinen Zugang zu diesen
finden konnten. Das Beratungs- und Begleitungsangebot wird, wenn nötig, „bis
ins Wohnzimmer“ der betroffenen Familien getragen und dient oftmals als eine
Art Clearing, um weitere Unterstützung für die Familien auf den Weg zu bringen.
Fachkräftefortbildung
Betroffene Eltern gehen mit ihrer Krankheit aus nachvollziehbaren Gründen
nicht hausieren. Sie wissen um die Stigmatisierung, die mit ihrer Erkrankung
einhergeht und sind sehr vorsichtig damit, ihre Not mit anderen zu teilen. Umso
wichtiger sind Fortbildungen für Fachkräfte aus Schulen, Kindertagesstätten,
offenen Ganztag oder Jugendämtern, um zu erarbeiten, wie man Eltern einladen
kann, sich den Helferinnen und Helfern zu öffnen, ohne dass diese Öffnung zu
der sonst in Gesellschaft erlebten Erniedrigung führt.
Der zuletzt genannte Angebotsteil ist der Wichtigste in Bezug auf die zu
Beginn geschilderte Problematik der noch verbesserungswürdigen Kooperation der
Institutionen und der damit zusammenhängenden Koordination der Hilfen.
Startschuss hierzu bot ein Fachtag am 09.06.2022 unter dem Titel „Kinder von
psychisch kranken Eltern – Familien im Spannungsfeld zwischen Jugendhilfe und
Psychiatrie“. Hierzu waren unterschiedliche
Professionen aus unterschiedlichsten Arbeitsbereichen eingeladen:
Ärztinnen, Erzieherinnen, Mitarbeitende aus Jugendämtern, Jugendeinrichtungen,
aus psychiatrischen Krankenhäusern und Tageskliniken, den sozialpädiatrischen
und sozialpsychiatrischen Diensten, den Familienberatungsstellen, aus Schulen
und Wohnheimen für psychisch erkrankte Menschen und aus weiteren
psychiatrischen Hilfseinrichtungen. Ziel des
Fachtages war, eine verbindliche Zusammenarbeit im Versorgungssystem zu
schaffen, um den Benefit für die betroffenen Familien zu steigern. Hierbei soll
kein neuer Arbeitskreis geschaffen werden. Es ist beabsichtigt, in den
einzelnen Sozialräumen multiprofessionelle Fachkräfte fallbezogen „an einen
Tisch“ zu bringen, um individuumszentriert und ganzheitlich die bestmögliche
Förderung zu erzielen.
Der SkF Alsdorf e.V. als Kooperationspartner aller Jugendämter im
Altkreis ist derzeit dabei, in den einzelnen Kommunen die Kontakte und Angebote
der vernetzungswilligen Fachkräfte zu bündeln, um so in jedem Sozialraum ein
festes Helferteam zu generieren. Die Bereitschaft zur Vernetzung ist sehr groß.
Verstetigung der Angebote
Die Jugendämter der Städte Alsdorf, Eschweiler, Herzogenrath, Stolberg,
Würselen und das Jugendamt der Städteregion Aachen haben bereits im Frühjahr
2022 ihr Interesse bekundet, die Angebote für Familien mit einem psychisch
erkrankten Elternteil zu verstetigen und dafür entsprechende Mittel in die
allg. RU einzustellen. Voraussetzung hierfür ist die nachgewiesene Wirksamkeit
der einzelnen Module. Daher wurde zu Beginn der Projektlaufzeit das „Büro für
sozialwissenschaftliche Analysen und Planungen Dr. Joußen“ mit der Begleitung
und Evaluation beauftragt. Der detaillierte Zwischenbericht zur Evaluation mit
Stand Juli 2022 ist in der Anlage beigefügt.
Zusammengefasst einige Ergebnisse bzw. Handlungsempfehlungen der
Evaluation:
·
Vielen
Fachkräften fehlt eine hinreichende Kenntnis über das breite Spektrum der in
der Städteregion insgesamt verfügbaren Unterstützungsangebote und des
fachlichen Austauschs sowie eine kontinuierliche Zusammenarbeit.
·
98 % der
Befragten gaben an, dass aufgrund ihrer Erfahrungen und Erkenntnisse Maßnahmen
zur besseren Nutzung der in der Region vorhandenen Ressourcen im Interesse der
Kinder und Eltern erforderlich sind.
·
In der
Städteregion gibt es Kompetenzen und Strukturen zur Versorgung von Kindern
psychischkranker Eltern, eine weitere
Optimierung ist aber notwendig und möglich.
·
Die
systemübergreifende Vernetzung ist dringend notwendig und sollte versteigt
werden.
·
Fachkräftefortbildungen sowie die
stattgefundene Fachtagung sind ein erster Schritt dazu, Vernetzung als Ressource
zur Verbesserung der Lebenssituation von Kindern mit psychisch eingeschränkten
und erkrankten Eltern zu mobilisieren.
·
Fortbildungen
sollten auch auf Mitarbeitende aller Professionen ausgeweitet werden,
die
für eine möglichst frühe Identifikation von Unterstützungsbedarfen geeignet
sind:
Ärzt:innen, Lehrkräfte, Tagespflegepersonen,
Erzieher:innen etc. Voraussetzung für den Erfolg des Projektes ist, im weiteren
Fortgang die Fachkräfte des medizinischen Hilfesystems intensiv einzubeziehen.
- Eine zentrale Koordinierungsstelle in
der Städteregion ist sinnvoll, die in einer Art Lotsenfunktion fungiert
und die verschiedenen Hilfesysteme zusammenbringt.
Die Wirksamkeit der Angebote bzw. die Notwendigkeit der Verstetigung zum
Zwecke der unerlässlichen Vernetzung lässt sich durch den Zwischenbericht der
Evaluation durchaus belegen. Die genannten Handlungsempfehlungen sind zum Teil
bereits durch die Vernetzungsarbeit des SkF Alsdorf e.V. in der Umsetzung. Die
zentrale Koordinierungsstelle sollte darüber hinaus aufgrund der fachlichen
Expertise auch beim SkF Alsdorf e.V. angesiedelt sein. Alle oben genannten
Kommunen befürworten eine Verstetigung der Angebote über das Ende der
Projektlaufzeit zum 31.12.2022 hinaus.
Herr Jörn Keller (SKF Alsdorf e.V.) wird in der Sitzung das Projekt
vorstellen.
Rechtslage:
Das im Juni 2021 vom Bundesministerium für Familie, Senioren Frauen und
Jugend (BMFSFJ) verabschiedete Gesetz zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen
(Kinder- und Jugendstärkungsgesetz–KJSG) sieht u. a. bessere Hilfen für
Familien mit einem psychisch oder suchtkranken Elternteil vor (siehe JHA-
Vorlage vom 08.03.2022, Nr.: 061/22). Mit Umsetzung der gesamten Reform des SGB
VIII im Jahr 2028 muss die Jugendhilfe alle Neuerungen realisiert haben. Die
Kommunen in der Städteregion gehen die Veränderungen im Themenbereich Kinder
von psychisch kranken Eltern aufgrund der Bedarfe frühzeitig an.
Soziale Auswirkungen:
Das Projekt StäpkE richtet sich unmittelbar an Kinder, deren Eltern bzw.
ein Elternteil psychisch erkrankt sind. Dieses Projekt hilft betroffenen
Kindern und Jugendlichen unmittelbar und trägt somit wesentlich zum gesunden
Aufwachsen bei. Der Ausgleich von Benachteiligungen gehört zu einem Kernauftrag
der Kinder- und Jugendhilfe. Wenn das Wohl eines Kindes oder Jugendlichen in
der Erziehung nicht gewährleistet ist, haben Eltern ein Recht darauf, Hilfe zu
erhalten.
Zur Durchführung der „Angebote für Familien mit einem
psychisch erkrankten Elternteil – StäpkE“ sind im Haushaltentwurf 2023 der
StädteRegion Aachen im Produkt 06.04.01 „Erziehungsberatungsstellen mit
Schulpsychologie, Familienbildungsstätten und Adoptionsvermittlung (allg. RU)“
im Teilprodukt 951500 "Erziehungsberatung mit Schulpsychologie,
Familienbildungsstätten" Aufwendungen in Höhe von 90.000 € als
Zuschuss an den SkF Alsdorf e.V. vorgemerkt.
Keine